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Abitur- und dann?

Für uns als Kolleg ist es sehr spannend zu sehen, wohin die Reise der Abiturientinnen und Abiturienten nach ihrem Abschluss geht. Ein besonderes Beispiel hierfür ist Julius Schmitzer, der nach seinem dreiwöchigen Sozialpraktikum in der Oberstufe im Januar 2023 beim Jesuiten Flüchtlingsdienst JSR entschieden hat, durch den Jesuiten Freiwilligendienst Jesuit Volunteer (JV) ein Jahr in Bosnien-Herzegowina in Bihać an der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien zu verbringen und dort zu unterstützen. Hier berichtet er uns von seinen bisherigen Erfahrungen und prägenden Erlebnissen und gibt uns einen Einblick in seinen neuen Alltag:

„Mittlerweile bin ich seit ca. drei Wochen in Bihać, das ungefähr 7 Kilometer von der bosnisch-kroatischen Grenze entfernt ist und wo ich beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) arbeite. Diese Grenze markiert das Äußere der Europäischen Union, obwohl sie mitten in Europa verläuft. Damit ist sie auch ein Ort vieler Schicksale und trauriger Geschichten. Alles, was ich hier berichte, ist meine persönliche Sichtweise. Ich möchte meinen Fokus nicht auf politische Fragestellungen legen, sondern auf die Menschen mit ihren individuellen Schicksalen.

„Jesuitenschulen sollen Orte sein, an denen sich Menschen in ihrer eigenen Würde erfahren.“ ist das Schuljahresmotto 24/25 am Canisius-Kolleg, welches ich auch auf die Lage hier adaptieren würde. Es geht uns als JRS vor Ort darum, die einzelnen Menschen zu sehen und ihnen das Gefühl und Bewusstsein ihrer eigenen Würde zurückzugeben. Dafür arbeiten wir grob eingeteilt in drei Bereichen:

Zum einen in Camps, wobei das Camp Lipa besonders heraussticht. Lipa liegt ca. 25 Kilometer hinter der Grenze auf einer Hochebene mitten im Nirgendwo. Die letzten Kilometer fährt man in den Bergen über eine schlechte Schotterstraße bevor sich auf einmal in der brennenden Sonne ohne Schatten ein Containerdorf für maximal 1.500 junge Männer vor einem auftut. Dieser vor wenigen Jahren errichtete Ort wird von vielen Organisationen als ein Symbol schwerster Menschenrechtsverletzungen, die direkt durch Europa finanziert werden, gesehen. Menschen werden nach den illegalen Pushbacks der kroatischen Grenzpolizei oft an den Füßen verletzt und ohne Handys, Geld oder Kleidung hergebracht. Hier erholen sie sich bevor sie durchschnittlich siebenmal wieder das „game“ probieren. „Game“ ist der euphemistische Begriff für den Versuch, über die Grenze zu kommen.

Andere Organisationen wie das Rote Kreuz kümmern sich in Lipa um die medizinische Versorgung, die psychologische Betreuung und das Essen. Der JRS ist dafür da, den oft leeren und depressiven Menschen wieder etwas Menschliches zu geben. Wir stellen in einem Container Friseurmaschinen bereit, wo sich die Flüchtlinge dann rasieren und ihre Haare schneiden können. Dabei geht es aber auch vor allem um den Kontakt mit ihnen: Kaffee- oder Teetrinken, Kartenspielen, mit ihnen Lachen, etc.. Im IT-Container haben wir die Möglichkeit, Interessierten den Umgang mit Computern beizubringen oder ein paar Grundlagen in Deutsch und Englisch auf den Weg zu geben. Besonders der Deutschunterricht hat mit in letzter Zeit Spaß gemacht, weil man viel ins Gespräch miteinander kommt: Über ganz simple Themen, aber auch teilweise die Heimat oder Fluchtgeschichte.
In Lipa darf man außerhalb der Container nicht fotografieren. Online gibt es aber einige wenige Fotos des Camps. Weitere Bilder und einen guten Eindruck der Lage vermittelt dieser kurze Beitrag der Arte.

In unser Day Center in Bihać kommen hauptsächlich Personen aus dem Familiencamp Borići in der Nähe oder welche, die in der Stadt leben: Wir geben Kleidung und Schuhe aus und geben ihnen die Möglichkeit, sich etwas mit unseren Nahrungsmitteln zu kochen oder ihre Handys aufzuladen. Andere Organisationen mit Kurzzeitfreiwilligen unterstützen bei der medizinischen Versorgung. Von hier aus veranstalten wir auch wöchentlich eine Aktivität mit Leuten aus dem Familiencamp. So waren wir mit einigen Leuten beispielsweise im nahegelegenen Nationalpark bei einem Picknick. Zwei Familien, eine davon zwei Töchter mit Mutter und Oma aus Syrien: Die Jüngste der Töchter ist 13 Jahre alt, lebt mittlerweile acht Monate in Borići und ist die einzige, die Englisch kann. Sie erzählt mir mit klarer Stimme von ihren bisherigen wortwörtlichen Lebensweg, ihrer Fluchtroute, der Angst während der Fahrt über das Meer zwischen der Türkei und Griechenland. Dabei wird sie aber etwas heiser und in den Augen sammeln sich Tränen. Vor ihr liegt noch ein beschwerlicher und gefährlicher Weg über die kroatischen Grenze bis zum von den meisten Menschen hier angesteuerten Ziel Deutschland oder Österreich: „Allah will guide us, I hope.“, sagt sie wieder mit etwas Zuversicht und einem kleinen Lächeln. Sie ist ein starkes Mädchen, mit einem eigentlich unglaublichen Schicksal; wenige Minuten später bei einer Runde Volleyball aber wieder ein normales lachendes und spielendes Kind.
Ich kann hier nur im Ansatz erahnen, was einige meiner Mitschüler:innen aus der ISS Pedro Arrupe, mit denen ich bis vor wenigen Monaten gemeinsam mein Abitur gemacht habe, in einem ähnlichen Alter wohl durchgemacht haben müssen. Aber es erfüllt mich mit einer unglaublichen Ernüchterung, Demut und Traurigkeit, wenn ich dieses Mädchen sehe, das gute fünf Jahre jünger ist als ich,  und weiß, was noch vor ihr liegt. Ich persönlich käme mit meinem deutschen Reisepass problemlos über jede europäische Grenze. Sie nicht, nur unter Lebensgefahr.

Der letzte Bereich ist die eher technischere Nothilfe, das „Outreach“. Wir fahren mit einem Auto und Non-Food-Artikel wie Pullovern, Hose oder Schuhen in das direkte Grenzgebiet und suchen Flüchtlinge, die nach den Pushbacks wieder auf dem Weg zurück nach Lipa sind. Wenn wir sie finden, geben wir ihnen, was sie brauchen und organisieren einen Transport durch die UN-Organisation IOM, die als einzige hier in der Region Flüchtlinge transportieren darf.

Ich hoffe, ich konnte einen kleinen Einblick in die Arbeit hier vor Ort geben. In diesem Jahr wird aber noch viel passieren. Besonders der Herbst und Winter werden wahrscheinlich arbeitsmäßig hart, weil derzeit die meisten Flüchtlinge außen in den Wäldern schlafen und dann, wenn es zu kalt ist, in die Camps und das Day Center kommen.

An dieser Stelle auf meinen Blog verweisen, der sich zukünftig noch füllen wird und wo auch für eventuelle Fragen oder Gedanken meine Kontaktdaten stehen.

Was ich euch und Ihnen aber schon jetzt mitgeben möchte und was ich in der bisher so kurzen Zeit hier schon gelernt habe, ist: Unabhängig von allen politischen Diskussionen aktuell über Flucht und Asyl in Deutschland und Europa, wir müssen gerade hier den einzelnen Menschen sehen. Mit seiner individuellen unabsprechbaren Würde, mit seinen Ängsten, mit seinen Gefühlen, aber auch mit allem Potential zur Freude. Alle Menschen hier sind wie wir, nur mit einem zufällig anderen Geburtsort und deshalb auf der Suche nach einem besseren Leben in Sicherheit und Frieden. Niemand flüchtet aus Spaß. Viele Menschen sterben dabei oder tragen schwere psychische Probleme davon. Auch hier in der direkten Nähe von Bihać.


Wir können uns alle und überall dafür einsetzen, dass nicht nur Jesuitenschulen Orte sind, an denen Menschen sich in in ihrer eigenen Würde erfahren können. Sondern vielleicht auch hier vor den Toren Europas oder unter der Brücke bei den Obdachlosen am Berliner Bahnhof Zoo.“

© Julius Schmitzer

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