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Gruppendynamische Grundüberlegungen

Vernetzung

Verhaltensweisen von physischer Gewalt gegen Personen oder anderer Personen Eigentum oder Verhalten von seelischer Gewalt wie Mobbing/Bullying, Einschüchterungen oder Belästigung sind von vorne herein deutlich als „nicht erwünscht” zu adressieren, zurückzuweisen und zu sanktionieren. Dieser Form von Gewaltanwendung wird bei uns mit der inneren Grundhaltung begegnet, dieses Verhalten des Systems zu verweisen – mit dem Ziel, den Betroffenen vor weiterer Gewalt zu schützen, dem Verursacher eine Verhaltensänderung zu ermöglichen und die ursächliche Grundsystematik der Gruppe oder gar des gesamten “Systems” dahingehend zu verändern, dass konstruktives und wertschätzendes Miteinander ermöglich werden können.

Die Soziologie und die Sozialpsychologie gehen davon aus, dass alle Formen von Gruppen spezifische Entwicklungsphasen durchlaufen. Ein klassisches Gruppenentwicklungsphasenmodell wird in den 1960er Jahren von Saul Bernstein und Louis Lowy beschrieben. Die Grundannahme ist, dass Gruppenprozesse in verschiedenen Phasen ab, die sich wiederholen können. Jede Gruppenentwicklungsphase hat ihre spezifischen Phänomene, Themen, Aufgaben und Konflikte, die jeweils zu bewältigen sind, um eine weitere Phase hinübergehen zu können.

Diese Annahme können wir auch auf Lerngruppen anwenden. Einer besonderen Aufmerksamkeit ist der Phase der Gruppenbildung  und der Phase der s.g. Auseinandersetzung und Positionsfindung (oder: Phase 2 „Storming“ Gärung und Klärung) zu widmen. Die sogenannte „soziale Organisation“ der Gruppe – darunter verstehen wir die Gruppen­struktur, die jeweiligen Rollenmuster und Positionen der Gruppenteilnehmer – ist in ihren Anfängen zu erkennen. War in der dieser Phase vorgelagerten Phase noch eine relative Beziehungslosigkeit unter den Schülerinnen und Schülern vorhanden, so entwickeln sich jetzt deutliche Beziehungen unterein­ander. Durch die zunehmende persönliche Offenheit Einzelner werden Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern deutlich. Dabei werden Spannungen, Rivalitäten um den angemessenen Platz innerhalb der Gruppe und die erwünschte Beachtung, aggressive Gefühle aber auch Ängste ausagiert. Im Verhalten zeigt sich dies mitunter durch Versuche, die Definitionsmacht über die Gruppe zu gewinnen, oder im unangemessen scharfen Streit um die richtige Meinung und die gültigen Werte, oder im Statuskampf mit der Lehrkraft, aber auch durch abwertende Äußerungen und Tabuisierungen. Besondere Kennzeichen dieser Phase sind Sympathie und Antipathie, Spannungen und Unbehagen; Schüler treten in direkte Konfrontation mit anderen Schülern oder aber mit der Lehrkraft. Die Gruppe gibt sich auf der informellen Ebene eine innere Struktur. Es werden Beziehungen zueinander gefunden und jedes Gruppenmitglied positioniert sich. Die Rolle und der Status werden sowohl durch die eigenen Vorlieben als auch durch die Zuschreibungen der Gruppe in entsprechenden Positionskämpfen definiert.

Es besteht die Gefahr, dass die Schülerinnen und Schüler sich gegenseitig auf Rollen festlegen, die sie zunächst nur aufgrund ihrer Unsicherheit in der Anfangsphase eingenommen haben. Gerade in dieser Phase ist auf der einen Seite das Bedürfnis hoch, Teil der Gruppe sein, integriert zu sein, dazuzugehören und andererseits nimmt das Maß an Angst aus der Gruppe, der Gemeinschaft herauszufallen auf eher unthematischer Ebene eine enorme Größe an.

1. Phasenspezifische Merkmale

Die für diese Phase typischen Streitereien und Konflikte fördern den Kontakt und beschleunigen das gegenseitige Kennenlernen. Überschreitet das sich aneinander Reiben und Austesten bestimmte Grenzen, besteht die Gefahr, dass die gegenseitige Achtung und der Zusammenhalt nachhaltig beschädigt werden und die Gruppe beschädigt wird. Das zeigt sich durch Ausgrenzungen aller Art oder Cliquenbildungen; das zeigt sich, wenn ein Schüler bzw. eine Schülerin die Klassen verlässt.

Schon der Beginn einer Cliquenbildung in Klassen/Gruppen/Teams ist immer ein Hinweis auf die Phase der Auseinandersetzung und Positionsfindung. Die Clique definiert sich über die Abgrenzung zu anderen; vorzugsweise durch Abwertung einer anderen Person oder einer anderen Gruppe/Clique. Dauerhafte Unruhe, Lautstärke und weiteres Austesten der Regeln und der Lehrkraft auf deren jeweilige Verlässlichkeit sind ebenfalls Zeichen dieser Phase. Ist es der Gruppe nicht möglich, sich in eine Phase konstruktiver Zusammenarbeit weiterzuentwickeln, bleibt Gruppenkohäsion fragil, ist das Maß der Aggression und der darunterliegenden Angst innerhalb der Gruppe immens hoch. Die Lehr- und Lenreffizienz sind kaum vorhanden und Mobbing/Bullying, Einschüchterung, Schikanieren – auf Kosten anderer Mitglieder der Gruppe werden zur akzeptierten „Kultur“ des Miteinanders. 

Die eingangs vorgegebenen oder vereinbarten Regeln werden auf ihre tatsächliche Stabilität und Wirksamkeit hin ausgetestet werden.

Klassenleitung oder Lehrkraft ist häufig in die Auseinandersetzungen mit einbezogen. Sie wird zuweilen Zielscheibe offener und verdeckter Provokationen. Damit wollen die Schülerinnen und Schüler herausfinden, ob und wie die Lehrkraft das Einhalten der Regeln erreicht, wie leicht sie aus der Fassung zu bringen ist und wie groß ihre Führungskompetenz ist. Die Klassenleitung ist von der Ausbildung informeller Führerschaften direkt betroffen. Informelle Führer müssen nicht unbedingt in Konkurrenz zu ihr stehen, sondern können sie auch als Lehrkraft/Klassenleitung akzeptieren. Es kommt aber auch vor, dass ein Schüler / eine Schülerin verdeckt oder offen in Konkurrenz mit der Lehrkraft treten möchte und deren Position als Ganzes in Frage stellt. Womit die „Machtfrage“ gestellt wird; diese ist von der von der Lehrkraft beantworten, um Stabilität, Verlässlichkeit und Halt zu vermitteln.

2. Phasenspezifische Aufgaben der Klassenleitung/Kursleitung/Lehrkraft

Diese Phase ist für die Kulturbildung einer Gruppe essentiell. Der Lehrkraft bzw. der Klassenleitung kommt hier die Verantwortung zu, den Rahmen und die Regeln klar auch gegen (zuweilen massiven) Widerstand der Gruppe aufrecht zu erhalten und durchzusetzen.

  • Vorsicht: Auch die Lehrkraft muss sich zuweilen den eigenen Platz erst noch verschaffen. Geschieht dies vorbildhaft oder auf Kosten der Schüler?
  • Die Rolle der Führung klären.
  • Die Schülerinnen und Schüler ermutigen, sich zu zeigen und ihren Platz innerhalb der Gruppe aktiv und konstruktiv zu gestalten.
  • Auseinandersetzung und Aufruhr zwischen den Schülern zunächst zulassen, ohne sie gleich durch Moderation zu begradigen; Beziehungsklärung fördern.
  • Die unterschiedlichen, individuellen Stärken mit den unterschiedlichen Rollen zusammenführen.
  • Rivalitäten moderieren, indem auch Synergieeffekte der sich ergänzenden, aber verschiedenen Fähigkeiten aufmerksam gemacht wird.
  • Wenn möglich, „neutral“ bleiben aber jederzeit vor Abwertung und Ausgrenzung Schützen.
  • Ermöglichen, dass alle Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen und dass das Gespräch innerhalb der Gruppe und das Verhalten nach klaren und fairen Regeln verläuft.
  • Wertschätzung und Akzeptanz im Sinne einer „Allparteiigkeit“ vorleben.
  • Vorsicht: Aufgaben nicht so vergeben, dass Privilegien sich verfestigen.
  • Sich keinesfalls angegriffen fühlen oder sich resigniert zurückziehen oder in aggressiver Form „die Dinge klarstellen“.

3. Phasenspezifische Interventionen zur Förderung der Gruppenentwicklung

Diese Gruppenentwicklungsphase ist unausweichlich; und es besteht eine gewisse Notwendigkeit, diese gut durchzuarbeiten. Es ist von großem Interesse und Nutzen, dass rechtzeitig die Grundlagen hierzu  gelegt werden. Der Anfangsphase einer sich neu formierenden Gruppe, die Phase der „Fremdheit und Orientierung“ sollte also zunächst ein hohes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hier wird dies sein: Kennenlernen ermöglichen, Regeln des Miteinanders und der Kommunikation benennen und aufrecht erhalten, gruppenbildenden Aktivitäten Raum geben, die die Norm grundlegen, dass der einzelne Wert erhält, indem er sich für den anderen einsetzt und engagiert im Gegensatz zu einer verkehrten und gefährlichen Normierung im Sinne eines „Wert erhalte ich, indem ich andere abwerte, ausgrenze, Gewalt antue“.

Mittel der Wahl zur Bildung einer verlässlichen Basis des Miteinanders als Ermöglichung in die nächste Phase (der Vertrautheit oder gar der konstruktiven Zusammenarbeit) überzugehen, ist in dieser Phase der „Positionsfindung und Auseinandersetzung“, die Schaffung eines geschützten Raumes, um strukturierte Rückmeldungen zu ermöglichen. Diese dient allein dem Ziel, dass alle Gruppenmitglieder (hier: alle Schülerinnen und Schüler) jederzeit das Gefühlt haben, gewünscht und wertgeschätzt zu sein und das Maß an Angst davor, aus der Gruppe herauszufallen minimiert wird.  (Wichtig: Dies muss geübt werden und kann nur im geschützten Rahmen angeboten werden und bedarf der Schulung der Lehrkraft, die dies anbietet.)

4. Extremsituation Schikanieren, Belästigen, Einschüchterung, Ausgrenzung, Mobbing

Wir geben präventiven Maßnahmen jederzeit den Vorzug vor protektiven oder „kurativen“ Maßnahmen, die – wenn es meist schon zu spät ist – nur noch auf der Symptomebene angewandt werden können. Schule verfolgt primär das Ziel der Vermittlung von Bildung und Wissensinhalten. Die Schülerinnen und Schüler sollen die besten ihnen möglichen Bildungsabschlüsse erreichen können. Die notwendigen Grundlagen für einen solchen „Lernerfolg“ werden sicherlich auch aufgrund nur unzureichender Ressourcen (Zeit, Geld, Personal) wenig reflektiert: Die Lehrkraft als Person und ihre Fähigkeit Bezug und Resonanz zu ermöglichen und die Lerngruppe als ein verlässlicher, angstfreier Ort für alle. Aus unserer Sicht ist hier ein Zusammenhang zu den unerwünschten Extremsituationen von Belästigung, Einschüchterung, Schikanieren, Ausgrenzung und Mobbing zu sehen.

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